Unsere Sinnessysteme – Was kann man tun, wenn es zu wenige Reize sind?
Unsere Sinnessysteme sind ständig aktiv – sie helfen uns Informationen aus der Umgebung aufzunehmen, einzuordnen und darauf zu reagieren. Doch während manche Menschen bereits auf wenige und kleine Reize empfindlich reagieren (Hypersensibilität), brauchen andere deutlich stärkere oder mehr Reize, um diese überhaupt wahrzunehmen. Dieses Phänomen nennt man Hyposensibilität.
Menschen mit Hyposensibilität haben eine erhöhte Wahrnehmungsschwelle – schwächere Reize werden oft gar nicht oder nur verzögert registriert. Das kann sich auf verschiedene Sinne auswirken: Geräusche, Berührungen, Gerüche oder auch körpereigene Signale werden weniger intensiv wahrgenommen. Wenn zu wenige Reize wahrgenommen werden, kann dies die Konzentration, das Körpergefühl oder auch die emotionale Balance beeinflussen. Doch durch bewusste Reizgestaltung lässt sich die Wahrnehmung gezielt unterstützen. Häufig zeigt sich daher auch ein reizsuchendes Verhalten – unbewusst werden starke oder ungewöhnliche Reize aufgesucht, um das eigene innere Gleichgewicht wiederherzustellen und sich besser regulieren zu können.
In diesem Blogbeitrag werfen wir einen genaueren Blick auf Hyposensibilität in den einzelnen Sinnessystemen und zeigen, mit welchen Strategien wir sie gezielt begleiten und unterstützen können.
Sehsinn (visuell)
Wenn visuelle Reize kaum oder unauffällig wahrgenommen werden, kann es schwerfallen, die Umgebung als interessant oder anregend zu empfinden. Besonders wenig Kontraste, bewegungsarme oder reizarme Umgebungen können dazu führen, dass die Aufmerksamkeit sinkt oder visuelle Orientierung schwerfällt. Gleichzeitig können aber visuelle auffällige Materialien in der Umgebung von der eigentlichen Aktivität ablenken. Durch eine bewusst gestaltete Umgebung lässt sich die Wahrnehmung gezielt aktivieren.
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Arbeits-/Lernmaterialien klar strukturieren und visuell hervorheben (z.B. Arbeitsplatz markieren, mit Farben und Bildern arbeiten)
Arbeitsumgebungen nach Möglichkeit wenig ablenkend und organisiert gestalten (um die Aufmerksamkeit auf relevante Reize leiten zu können)
bewegte visuelle Reize gezielt anbieten (z. B. Lavalampen, Lichtprojektionen, Mobiles z.B. vor oder nach Arbeitsphasen)
bewusster Einsatz von kontrastreichen Farben und deutlichen Muster in der Umgebung
Sitzposition im Raum abhängig von den persönlich idealen visuellen Bedingungen
Hörsinn (auditiv)
Wird der Hörsinn unterbeansprucht, bleiben Geräusche, Töne oder Sprache häufig im Hintergrund. Eine ruhige Umgebung oder leise Geräuschquellen können dazu führen, dass akustische Reize kaum registriert werden und Gespräche oder akustische Hinweise schwerer zu verfolgen sind. Menschen mit auditiver Hyposensibilität suchen häufig von sich aus lautere Geräusche oder rhythmische Klänge auf. Eine bewusste Gestaltung der akustischen Umgebung kann helfen, den Hörsinn anzuregen und die Aufmerksamkeit zu fördern.
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bewusste akustische Signale einsetzen (z. B. Timer, Klingel, Wecker mit klaren Tönen)
deutliche, klare Sprache verwenden – bei Bedarf Input reduzieren oder visuelle Unterstützung ergänzen
Hintergrundgeräusche nutzen, um die Wahrnehmung zu fördern (individuell z.B. Naturgeräusche, Klaviermusik, Metal) oder alternative Regulationsmöglichkeiten nutzen (z.B. Figet Toys, leises Summen)
räumlich nahe Sitzposition an wichtigen auditiven Quellen
Tastsinn (taktil)
Wenn Berührungen, Oberflächen oder Temperaturunterschiede weniger bis kaum spürbar sind, bleibt taktile Information oft unbemerkt. Körperliche Kontakte oder bestimmte Texturen werden bei einer Hyposensibilität als wenig intensiv erlebt, was dazu führen kann, dass nach starken taktilen Reizen aktiv gesucht wird – etwa durch Kneten, Festdrücken oder grobe Bewegungen. Durch gezielte taktile Erfahrungen kann das Körperempfinden bewusst unterstützt werden.
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Bewegungsaktivitäten mit unterschiedlichem Kraftaufwand anbieten (z. B. leichtes und starkes Ziehen, Drücken oder Schieben)
erhöhtes Berührungsbedürfnis durch Fidget Toys oder andere Alternativen abdecken (z.B. Velcro, Sticker)
Massagen mit Druck- oder Klopftechniken
schwere oder anliegende Kleidung (z. B. Kompressionskleidung, Mützen)
Tiefendruckaktivitäten (z.B. Therabänder an den Sesselbeinen) und festes Umarmen, „High Fives“ oder andere klare Berührungsrituale einbauen
verschiedene Texturen und Temperaturunterschiede gezielt einsetzen (z.B. Stifte taktiler gestalten)
Wasseraktivitäten wie Plantschen, Spritzen oder Waschen bewusst nutzen
Geschmacksinn (gustatorisch)
Eine hyposensible Wahrnehmung im gustatorischen Bereich führt oft dazu, dass Aromen, Gewürze oder Konsistenzen als wenig intensiv erlebt werden. Speisen können dann als wenig abwechslungsreich oder uninteressant empfunden werden, was sich auf Essverhalten auswirken kann. Eine bewusste Gestaltung von Geschmackserlebnissen kann hier unterstützen.
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aktiv beim Zubereiten und Abschmecken der Mahlzeiten einbeziehen
alternative Kaumaterialien anbieten (z. B. Kaustifte, Kettenanhänger, Fidget-/Kauschmuck, Kaugummi, getrocknete Früchte, rohes Gemüse, knusprige Snacks)
bewusste Temperaturwechsel nutzen (z. B. kalte und warme Speisen kombinieren)
kräftige, intensive Aromen anbieten (z. B. scharf, sauer, würzig)
kreatives Anrichten von Mahlzeiten
Lebensmittel mit variierenden Texturen einsetzen (z. B. knackig, cremig, körnig)
mit Zutaten und Gewürzen experimentieren
Variation in Temperatur, Geschmacksrichtung Art und Ort zum Essen anbieten
Geruchssinn (olfaktorisch)
Wenn Gerüche kaum wahrgenommen werden, bleibt die olfaktorische Umgebung oft unauffällig. Sowohl angenehme als auch weniger angenehme Düfte werden übersehen, was dazu führen kann, dass der Geruchssinn wenig Orientierung bietet. Durch bewusst eingesetzte Geruchsquellen kann die Wahrnehmung gezielt angeregt werden.
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Aktivitäten mit intensiveren Geruchsreizen verbinden (z. B. Kochen, Gartenarbeit)
duftende Materialien integrieren (z. B. Raumdüfte, Aromalampen – vorher den individuellen Effekt testen)
geruchsintensive Pflegeprodukte nutzen (z. B. parfümierte Lotions, Duschgele)
Geruchsspiele anbieten (z. B. „Riech-Memory“, duftendes Play Doh)
intensive, natürliche Düfte bewusst einsetzen (z. B. Zitrusöle, Gewürze, Kräuter)
Gleichgewichtssinn (vestibulär)
Eine geringe Wahrnehmung von Bewegungsreizen führt oft dazu, dass Bewegungsangebote und -möglichkeiten als zu wenig anregend empfunden werden. Häufig besteht der Wunsch nach stärkeren oder schnelleren Bewegungen, um den Gleichgewichtssinn bewusster zu spüren (z.B. wie Schaukeln oder Drehen). Hier kann es hilfreich sein, gezielt vestibuläre Reize einzubauen.
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ausreichend Bewegung in den Tagesablauf inkludieren
Balancier- oder Kletterangebote nutzen (z. B. Fahrrad fahren, Spielplatz, Kletterwand, Slackline)
regelmäßige Bewegungspausen
Schaukeln, Hüpfen oder Drehen bewusst fördern (z. B. auf Trampolin, Kreisel, Schaukelstuhl)
Tanz- oder Bewegungsspiele mit schnellen Richtungswechseln einsetzen
verschiedene Sitzmöglichkeiten ausprobieren (z.B. Kissen, Bälle, Therabänder)
Propriozeption/Tiefensensibilität
Wenn das Körpergefühl und die Eigenwahrnehmung wenig präsent sind, wird die Position des Körpers im Raum oft weniger stark wahrgenommen oder bleibt unbewusst. Dies kann zu einem erhöhten Bedürfnis nach kräftigen, intensiven Bewegungen oder Druck führen. Ziel von verschiedenen Strategien ist es, den Körper spürbarer zu machen und Orientierung zu geben. Wichtig ist dabei aber auch klare Grenzen und Strukturen beim Einsatz kräftiger Aktivitäten zu setzen, um Überforderung oder Verletzungen zu vermeiden.
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bewusste Dehn-, Pilates-, Yoga-Übungen oder Massagen mit festem Druck (z. B. Deep-Pressure-Massage, Klopftechniken) zur Förderung der Körperwahrnehmung einsetzen
enge und schwerere Kleidung (z.B. gewichtete Weste, Kompressionskleidung)
grobmotorische Spiele und Aktivitäten einbauen oder anbieten
Sportarten mit Widerstand oder Gewicht (z. B. Krafttraining, Schwimmen)
Tiefendruckaktivitäten sowie Kraft- und Resistenzaktivitäten in den Alltag integrieren
unterstützende Materialien nutzen wie Therabänder, Sitzbälle, Kaumaterialien, schwere Gegenstände (z.B. Decke, Kuscheltier, Armbänder)
Interozeption (viszeral)
Werden innere Körpersignale wie Hunger, Durst oder Müdigkeit wenig wahrgenommen, kann es schwerfallen, auf eigene Bedürfnisse rechtzeitig zu reagieren. Auch körperliche Anspannung oder Unwohlsein werden oft erst spät bemerkt. Durch bewusstes Nachspüren und feste Routinen lässt sich die Körperwahrnehmung fördern.
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Achtsamkeitsübungen zur besseren Körperwahrnehmung (z. B. Atemübungen, „Wie fühlt sich mein Bauch an?“)
bequeme Kleidung und angenehme Sitzmöglichkeiten, die das Körperempfinden fördern
bewusste Pausen einbauen, um Körpersignale nachzuspüren
Entspannungstechniken wie tiefe Bauchatmung oder progressive Muskelentspannung nutzen
Erinnerungen setzen (z. B. Timer, Apps) für Mahlzeiten und Flüssigkeitsaufnahme oder bewusst auf Toilettengänge, Durst oder Müdigkeit hinweisen
feste Routinen für Essen, Trinken und Ruhephasen einführen
Fazit
Mit der passenden Umgebung und gezielten Impulsen lässt sich Hyposensibilität im Alltag gut begleiten. Ob durch strukturierte Bewegung, taktile Erfahrungen oder bewusst eingesetzte Reize – oft sind es kleine Anpassungen, die einen großen Unterschied machen. Welche Strategien dabei am besten unterstützen, ist so individuell wie jedes Sinnessystem selbst und zeigt sich häufig erst durch eigenes Ausprobieren und Beobachten.